Arbeitsrecht
September 2023 Tilgung von Urlaubsansprüchen bei fehlender Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers, Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.03.2023 - 9 AZR 488/21
veröffentlicht am 01.09.2023
Bekanntlich haben Arbeitnehmer nach § 3 Abs. 1 BUrlG einen Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen, ausgehend bei einer 6-Tage-Woche. Darüber hinaus wird den Arbeitnehmern regelmäßig im Rahmen eines Arbeits- oder Tarifvertrages ein übergesetzlicher Urlaub gewährt. Nicht nur, dass einige Vertragsparteien keinerlei Differenzierung zwischen gesetzlichem und übergesetzlichem Urlaub vornehmen, wird noch seltener eine konkrete Tilgungsbestimmung beispielsweise in der Form vorgenommen, dass der Arbeitgeber durch die Gewährung von Urlaub zunächst den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch und im Anschluss daran den übergesetzlichen Urlaubsanspruch erfüllt.
Es stellt sich daher die Frage, was mit entsprechenden Urlaubsansprüchen passiert, wenn eine unterbliebene Tilgungsbestimmung mit unterbliebenen Mitwirkungsobliegenheiten zusammentrifft. Diese Frage hat erneut das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 28.03.2023 - 9 AZR 488/21 beschäftigt.
Die Parteien stritten über die Abgeltung von Urlaubsansprüchen einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin aus dem Kalenderjahr 2019. Auf das Arbeitsverhältnis fand neben einem Tarifvertrag auch ein hierzu ergangener Erlass des Finanzministeriums Anwendung, welcher eigenständige Regelungen zum Umfang, Abgeltung und Verfall von Urlaubstagen enthielt. Beispielsweise könne der Erholungsurlaub in Abweichung der gesetzlichen Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer bis zum 30. September des Folgejahres übertragen werden. Die Arbeitnehmerin war bei der Arbeitgeberin bis zum 31.01.2021 beschäftigt und seit dem 24.07.2019 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.
Erst nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit wies die Arbeitgeberin die Arbeitnehmerin darauf hin, dass noch nicht genommener Urlaub am 01.10.2020 verfalle. Nachdem das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31.01.2021 sein Ende gefunden hatte, leistete die Arbeitgeberin für 2019 Urlaubsabgeltung für 8 Tage gesetzlichen Urlaub, da sie der Ansicht war, mit den gewährten 17 Urlaubstagen vor Erkrankung der Arbeitnehmerin im Kalenderjahr 2019, den gesetzlichen Urlaub von 25 Tagen (20 Tage gesetzlicher Urlaub sowie 5 zusätzliche Tage infolge der Schwerbehinderung) anteilig erfüllt zu haben und daher insofern noch 8 Tage zustünden. Die Arbeitgeberin war der Auffassung, dass der tarifliche Mehrurlaub wegen der andauernden Arbeitsunfähigkeit verfallen sei.
Mit ihrer Klage vor dem Arbeitsgericht hat die Arbeitnehmerin die Abgeltung von weiteren 10 Urlaubstagen verlangt. Sie vertrat die Auffassung, dass die Arbeitgeberin bei der Urlaubsgewährung keine Tilgungsbestimmung vorgenommen habe, insofern sei zunächst der tarifliche Urlaub erfüllt worden. Bei den restlichen 18 Urlaubstagen handele es sich somit um den gesetzlichen Mindesturlaub, welcher wegen der andauernden Arbeitsunfähigkeit beim Ausscheiden nicht verfallen gewesen sei. Das Arbeitsgericht Kiel wies die Klage zunächst ab. Demgegenüber gab das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein dieser statt.
Mit der eingelegten Revision beim Bundesarbeitsgericht begehrte die Arbeitgeberin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils und mithin die Abweisung der Klage.
Im Ergebnis gab das Bundesarbeitsgericht der Arbeitnehmerin Recht und bestätigte, dass die Arbeitgeberin weitere 10 Tage Urlaubsabgeltung zu zahlen habe. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts habe die Arbeitgeberin mit der Gewährung von 17 und der Abgeltung von 8 Urlaubstagen ausschließlich den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Tagen bei einer 5-Tage-Woche sowie den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen gemäß § 208 SGB IX von 5 Tagen getilgt. Der übergesetzliche Teil von 10 Tarifurlaubstagen sei insofern noch offen.
§ 366 BGB, welcher die Tilgungsbestimmungen regelt, finde vorliegend Anwendung, wenn dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Urlaub zustehe, welcher auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhe. Sofern der Arbeitgeber keine Tilgungsbestimmung in diesem Sinne vornehme, sei die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe heranzuziehen, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden. Abschließend wies das Bundesarbeitsgericht auch daraufhin, dass die von der Arbeitgeberin nicht abgegoltenen 10 Urlaubstage auch nicht verfallen seien, da die Arbeitgeberin ihren Mitwirkungsobliegenheiten nicht vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nachgekommen sei.
Die vorgenannte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts reiht sich insofern Im Weiteren zu den bisher ergangenen Entscheidungen im Kontext der Tilgungsreihenfolge sowie der Mitwirkungsobliegenheit beim Erholungsurlaub konsequent ein. Bei der Vertragsgestaltung können Arbeitgeber insofern eine getrennte Regelung von gesetzlichen Mindesturlaubsansprüchen und vertraglichen Mehrurlaub regeln und darüber hinausgehend auch ein gesondertes Verfallregime aufstellen. Auch etwaige Mitwirkungsobliegenheiten sind im Einzelfall zu beachten.
Selbstverständlich helfen die Juristinnen und Juristen des Verbandes gerne den Mitgliedern bei allen damit verbundenen Fragestellungen.
- Autor: Rechtsanwalt Dr. Horst Röben
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