Arbeitsrecht
Juni 2023 Darlegungslast bei Streit über Fortsetzungserkrankung
veröffentlicht am 01.06.2023
Wenn ein Arbeitnehmer infolge Krankheit arbeitsunfähig ausfällt, kann er vom Arbeitgeber für max. sechs Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangen (§ 3 Abs.1 Satz 1 EFZG).
Tritt eine erneute Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit auf, gibt es erst einmal keine weitere Entgeltfortzahlung mehr. Eine Ausnahme gilt, wenn der Arbeitnehmer vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mind. sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (§ 3 Abs.1 Satz 2 Nr.1 EZFG).
Aber auch dann, wenn (z.B. chronisch kranke) Arbeitnehmer die sechsmonatige Karenzzeit nicht überstehen, ohne wegen derselben Krankheit auszufallen, können sie wegen dieser (chronischen) Krankheit erneut Entgeltfortzahlung verlangen, wenn der Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit wegen dieser Krankheit mindestens zwölf Monate zurückliegt (§ 3 Abs.1 Satz 2 Nr.2 EZFG).
Wiederholte Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit und damit eine sog. Fortsetzungserkrankung liegt vor, wenn die Krankheit, auf der die frühere Arbeitsunfähigkeit beruhte, in der Zeit zwischen dem Ende der vorausgegangenen und dem Beginn der neuen Arbeitsunfähigkeit medizinisch nicht vollständig ausgeheilt war, sondern als Grundleiden latent weiterbestanden hat, sodass die neue Erkrankung nur eine Fortsetzung der früheren Erkrankung ist. Die wiederholte Arbeitsunfähigkeit muss auf demselben nicht behobenen Grundleiden beruhen. Dieses kann auch verschiedene Krankheitssymptome zur Folge haben.
Die Beweislast dafür, dass eine Arbeitsunfähigkeit durch dieselbe Krankheit bedingt ist, die schon einmal während der letzten sechs (oder zwölf) Monate zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt hat, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beim Arbeitgeber.
Problem: Der Arbeitgeber kennt zunächst nur die ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die keine Angaben zu den Krankheiten bzw. Krankheitsursachen enthalten. Noch weniger Informationen erhält der Arbeitgeber durch die neue elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, denn daraus ist nicht einmal mehr der behandelnde Arzt erkennbar, der die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat. Um überprüfen zu können, ob hinter einer (erneuten) Arbeitsunfähigkeit möglicherweise dieselbe Krankheit wie vor einigen Monaten bzw. dasselbe Grundleiden steht, ist der Arbeitgeber somit zwingend auf Informationen durch den Arbeitnehmer angewiesen. Das BAG hat dazu mit Urteil vom 18.01.2023 (5 AZR 93/22) erfreulicherweise klargestellt, dass Arbeitnehmer im Streitfall gehalten sind, den Arbeitgeber sehr weitgehend zu informieren.
Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt betraf einen Arbeitnehmer, der in 2019 (68 Kalendertage) und in 2020 bis zum 18.08.2020 (42 Kalendertage) immer wieder arbeitsunfähig erkrankt war.
Der Arbeitgeber leistete Entgeltfortzahlung bis zum 13.08.2020. Wegen der Krankschreibungen, die der Arbeitnehmer für den 18.08.2020 und für einige der folgenden Tage bis zum 23.09.2020 einreichte, verweigerte er die weitere Entgeltfortzahlung, obwohl es sich bei den neuen Krankschreibungen teilweise um sog. Erstbescheinigungen handelte. Der Arbeitgeber hat sich bzgl. der Krankschreibungen für die Zeit vom 18.08.2020 bis zum 23.09.2020 auf das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung berufen. Die Anfrage bei der Krankenkasse bleib weitestgehend erfolglos.
Während das ArbG Frankfurt der Zahlungsklage des Arbeitnehmers stattgab, hat das Hessische LAG der Berufung des Arbeitgebers mit der Begründung stattgegeben, dass der Kläger alle Krankheiten im Jahreszeitraum vom 24.08.2019 bis zum 23.08.2020 konkret hätte beschreiben und seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden müssen. Das hat der Arbeitnehmer im Prozess unter Verweis auf den Datenschutz nicht getan, und das BAG hat die Entscheidung des LAG erfreulicherweise bestätigt.
Das BAG hat mit Blick auf die geltende abgestufte Darlegungslast klargestellt, dass zunächst der Arbeitnehmer unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen vortragen muss, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hält der Arbeitgeber trotzdem am Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung fest, ist es Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen vorzutragen, die eine Fortsetzungserkrankung ausschließen. Er muss, so das BAG, unter Bezugnahme auf den gesamten Sechs- bzw. Zwölfmonatszeitraum seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden schildern und darlegen, welche Folgen sie auf die Arbeitsfähigkeit hatten und seine Ärzte von der Schweigepflicht entbinden.
Das BAG begründet diese weitgehende, auf die Krankheitsursachen bezogene Vortragslast des Arbeitnehmers damit, dass der Arbeitgeber mangels eigener Informationen andernfalls keine Möglichkeit hat, sich zu dem Sachverhalt konkret zu äußern. Insbesondere eine Auskunft der Krankenkasse gegenüber dem Arbeitgeber zum Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung gemäß § 69 Abs. 4 HS. SGB X sei weder für den Arbeitgeber noch für das Arbeitsgericht rechtsverbindlich.
Das BAG räumt zwar ein, dass diese Obliegenheit einen Eingriff in das Grundrecht des Arbeitnehmers auf informationelle Selbstbestimmung und in sein Recht zum Schutz seiner Gesundheitsdaten gemäß Art. 9 Abs.1 DS-GVO darstellt. Es betont aber gleichzeitig, dass diese Eingriffe durch überwiegende rechtliche Gesichtspunkte gerechtfertigt sind, weil ein faires gerichtliches Verfahren für den Arbeitgeber ansonsten nicht möglich wäre.
Praxishinweis
Das Urteil ist sehr begrüßenswert und liegt auf der Linie der aktuellen Rechtsprechung des BAG, die die Bedeutung „neuer Erstbescheinigungen“ abschwächt. Die Arbeitsgerichte müssen prüfen können, ob die Pflicht zur Entgeltfortzahlung an einer Fortsetzungserkrankung scheitert. Dazu muss der Arbeitnehmer seine Gesundheitsdaten im Rahmen der abgestuften Darlegungslast offenlegen. Der Datenschutz steht dahinter zurück.
Die Obliegenheit zur Schilderung der Krankheiten, die einer erneuten und die früheren Arbeitsunfähigkeiten zugrunde liegen, besteht nicht nur vor Gericht. Wenn ein Arbeitgeber also aufgrund vorangegangener Erkrankungen eine Fortsetzungserkrankung vermutet, sollte die (erneute) Entgeltfortzahlung über insgesamt sechs Wochen hinaus (zunächst) verweigert und der Arbeitnehmer zur Mitteilung der Krankheitsursachen aufgefordert werden.
Sollten Sie Fragen im Einzelfall haben, wenden Sie sich an Ihren Verband.
- Autor: Rechtsanwältin Ruth Wreesmann
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