Arbeitsrecht
Mai 2023 Beginn des Kündigungsschutzes bei Schwangerschaft nach § 17 MuSchG
veröffentlicht am 02.05.2023
Erneut hatte sich das Bundesarbeitsgericht am 24.11.2022 (Az. 2 AZR 11/22) mit der Frage auseinanderzusetzen, wann der besondere Kündigungsschutz bei einer Schwangerschaft beginnt.
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung. Die Arbeitgeberin kündigte das seit dem 15.10.2020 bestehende Arbeitsverhältnis fristgemäß mit Schreiben vom 6.11.2020, welches der Arbeitnehmerin am Folgetag zugegangenen ist. Am 12.11.2020 erhob die Arbeitnehmerin beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage, mit der sie u.a. zunächst nur die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritt.
Erst mit anwaltlichem Schriftsatz vom 02.12.2020, der am Folgetag beim Arbeitsgericht einging, teilte die Arbeitnehmerin mit, in der sechsten Woche schwanger zu sein. Der am 07.12.2020 der Arbeitgeberin zugegangenen Abschrift war eine Schwangerschaftsbestätigung ihrer Frauenärztin vom 26.11.2020 beigefügt. Die Arbeitnehmerin legte im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens eine weitere Schwangerschaftsbescheinigung vor, in welcher der voraussichtliche Geburtstermin mit dem 05.08.2021 angegeben wurde.
Die Arbeitnehmerin hielt die Kündigung wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 MuSchG für unwirksam. Sie sei zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 07.11.2020 bereits schwanger gewesen. Von der Schwangerschaft habe sie jedoch erst am 26.11.2020 sichere Kenntnis erhalten. Die verspätete Mitteilung an die Arbeitgeberin sei unverschuldet und unverzüglich nach ihrer – der Arbeitnehmerin – Kenntnis erfolgt.
Die Arbeitgeberin hatte das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs bestritten. Die Arbeitnehmerin hätte sie schon früher über eine mögliche Schwangerschaft benachrichtigen müssen. Jedenfalls sei die Mitteilung der Arbeitnehmerin nicht mehr unverzüglich mit genannten Schriftsatz erfolgt. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten bei der verspäteten Übermittlung der ärztlichen Bescheinigung müsse sich die Arbeitnehmerin zurechnen lassen.
Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgte die Arbeitnehmerin ihr Begehren weiter, dass die Kündigung wegen des Kündigungsverbots nach § 17 Abs. 1 MuSchG unwirksam ist.
Die Revision der Arbeitnehmerin hatte Erfolg:
Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, S. 2 MuSchG ist die Kündigung gegenüber einer Frau während ihrer Schwangerschaft unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwangerschaft bekannt ist oder wenn sie ihm innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Das Überschreiten dieser Frist ist unschädlich, wenn die Überschreitung auf einem von der Frau nicht zu vertretenden Grund beruht und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.
Nach Ansicht des BAG hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerhaft angenommen, die Arbeitnehmerin könne sich nicht auf das Kündigungsverbot aus § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG berufen, da bei ihr zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 07.11.2020 keine Schwangerschaft vorgelegen habe. Das Bestehen einer Schwangerschaft und damit der Beginn des Kündigungsverbots werde bei natürlicher Empfängnis ausgehend von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Entbindungstermin entgegen der ständigen Senatsrechtsprechung (seit BAG 27.1.1966 – 2 AZR 141/65; zuletzt BAG 26.3.2015 – 2 AZR 237/14, BAGE 151, 189 Rn. 16 = NZA 2015, 734) nicht durch eine Rückrechnung eines Zeitraums von 280 Tagen, sondern lediglich von 266 Tagen bestimmt. Abzustellen sei – so das LAG – nicht auf die äußerste zeitliche Grenze für den möglichen Beginn einer Schwangerschaft (280 Tage), sondern nur auf die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer (266 Tage).
Das BAG sah sich jedoch nicht veranlasst, seine ständige Rechtsprechung abzuändern. Die kürzere Rückrechnung ist weder mit Unionsrecht noch mit nationalem Recht vereinbar. Zwar werde der Beginn des Kündigungsverbots weder im MuSchG noch in der Mutterschutzrichtlinie (RL 92/85/EWG) definiert. Das Kündigungsverbot des Art. 10 der Richtlinie erfordere aber einen Zeitraum, der die äußerste zeitliche Grenze darstellt, innerhalb derer eine Schwangerschaft vorliegen könnte.
Daher beginnt das Kündigungsverbot aus § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG 280 Tage vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin. Der Entbindungstag wird nicht mitgezählt.
Weiter führt das BAG aus, dass die Interessen der Arbeitgeberin über die Grundsätze der Darlegungs- Beweislast gewahrt werden. Die schwangere Arbeitnehmerin trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der Schwangerschaft und den voraussichtlichen Entbindungstermin. Die Arbeitgeberin kann den Beweiswert einer ärztlichen Bescheinigung über den mutmaßlichen Entbindungstermin erschüttern, indem sie Umstände darlegt und beweist, aufgrund derer es wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis widerspräche, vom Beginn der Schwangerschaft vor Kündigungszugang auszugehen. Die Arbeitnehmerin muss dann weiteren Beweis führen und ist gegebenenfalls gehalten, ihre Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Die Arbeitgeberin hatte jedoch im vorliegenden Fall keine Umstände diesbezüglich dargelegt.
Zu klären hatte das BAG dann noch, ob eine Zurechnung des Verschuldens Dritter bei der Schwangerschaftsmitteilung nach § 278 BGB oder § 85 Abs. 2 ZPO die Arbeitnehmerin trifft. Das BAG kommt zu dem Ergebnis, dass das Überschreiten der Frist nur dann von der Schwangeren zu vertreten ist, wenn dies auf einem gröblichen Verstoß beruhe, wenn die Frau also um ihre Schwangerschaft weiß oder es zwingende Anhaltspunkte gibt, die das Vorliegen einer Schwangerschaft praktisch unabweisbar erscheinen lassen. Eine Verzögerung der Mitteilung z.B. dadurch, dass sie erst in einem Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten erfolgt, ist von der Schwangeren nicht zu vertreten. Das gebietet Art. 6 Abs. 4 GG: die Gemeinschaft habe der werdenden Mutter Schutz und Fürsorge anzugedeihen. Die Arbeitnehmerin und mittelbar das Kind sollen nicht durch wirtschaftliche Existenzängste belastet werden.
Folgen für die Praxis:
Mit dieser Entscheidung führt das BAG seine ständige Rechtsprechung zum Beginn des Kündigungsverbots fort. Gleichzeitig werden die Rechte der schwangeren Arbeitnehmerinnen gestärkt, indem es eine Berechnungsmethode zugrunde legt, die die äußerste zeitliche Grenze für den möglichen Beginn einer Schwangerschaft miteinbezieht. Damit wird sichergestellt, dass jede schwangere Frau in den Genuss des besonderen Kündigungsschutzes des § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG kommt.
Zudem hat das BAG klargestellt, dass die Mitteilung im Rahmen eines Schriftsatzes in einem Kündigungsschutzprozess ausreichend ist. Zwar hat die Mitteilung dem Arbeitgeber gegenüber zu erfolgen. Aber auch bei einer dem Gesetz entsprechenden Sachbehandlung eingehender Schriftsätze durch das Arbeitsgericht ist gewährleistet, dass der Arbeitgeber innerhalb angemessener Frist von der Schwangerschaft Kenntnis erlangt. Im vorliegenden Fall erachtet das BAG es noch als unverzüglich, wenn die Arbeitnehmerin ihren mit der Vertretung im Kündigungsschutzverfahren beauftragten Anwalt sechs Tage nach Kenntnis von der Schwangerschaft kontaktiert haben sollte. Eine Arbeitnehmerin trägt daher weder allgemein das Risiko des rechtzeitigen Zugangs der Schwangerschaftsmitteilung, noch haftet sie für das Verschulden eines Boten oder Vertreters.
Sollten Sie Fragen im Einzelfall haben, wenden Sie sich an Ihren Verband.
- Autor: Rechtsanwältin Anja Vollbrecht
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