Arbeitsrecht
Januar 2023 Berücksichtigung der Rentennähe bei einer Sozialauswahl (BAG, Urteil vom 08.12.2022, 6 AZR 31/22)
veröffentlicht am 02.01.2023
Im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung sind seitens des Arbeitgebers bei der Auswahl des oder der zu kündigenden Arbeitnehmer gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG soziale Gesichtspunkte als Entscheidungskriterien heranzuziehen. Hierbei handelt es sich um die so genannte Sozialauswahl, die immer dann durchzuführen ist, wenn das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet.
Sozialauswahl bedeutet, dass der Arbeitgeber unter allen beschäftigten Arbeitnehmern, die einen vergleich- und austauschbaren Arbeitsplatz besetzen, denjenigen auswählen muss, der in sozialer Hinsicht am wenigsten schutzbedürftig ist.
Vorrangig zu kündigen und damit auch nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen sind allerdings die Arbeitnehmer, die noch keinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz genießen, also noch keine sechs Monate beschäftigt sind.
Damit diese Sozialauswahl nicht im luftleeren Raum oder gar willkürlich durchgeführt werden muss, hat das Bundesarbeitsgericht in den vergangenen Jahren ein Punkteschema entwickelt. Nach diesem Punkteschema werden Punkte vergeben für die jeweiligen sozialen Kriterien, die hier Berücksichtigung finden müssen. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin, der oder die hier die wenigsten Punkte angerechnet bekommen kann, ist vorrangig zu kündigen.
Punkte vergeben werden dabei für die Betriebszugehörigkeit, für Unterhaltspflichten, für eine Schwerbehinderung oder die Gleichstellung. Ebenfalls Punkte vergeben werden in diesem Rahmen für das Lebensalter.
Dabei sammeln Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Punkt pro vollendetem Lebensjahr, wobei hier maximal 55 Punkte angerechnet werden können. Pro Jahr der Betriebszugehörigkeit ist ein Punkt, ab dem elften Jahr der Betriebszugehörigkeit sind zwei Punkte zu vergeben. Ein verheirateter Mitarbeiter oder eine verheiratete Mitarbeiterin erhält weitere acht Punkte und für jedes seiner bzw. ihrer unterhaltspflichtigen Kinder vier weitere Punkte. Ein schwerbehinderter Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin erhält bis zu einem Grad der Behinderung von 50 pauschal 5 Punkte angerechnet sowie einen zusätzlichen Punkt für jeweils 10 weitere Grad der Behinderung. Ein Grad der Behinderung von 60 würde etwa zu einer Anrechnung von insgesamt sechs Punkten führen.
Ein 45-jähriger, verheirateter Mitarbeiter mit zwei Kindern und einer Betriebszugehörigkeit von zwei Jahren (63 Punkte nach dem vorab beschriebenen Punkteschema) ist demnach schutzwürdiger als etwa ein 34-jähriger Mitarbeiter, der zwar verheiratet ist und seit fünf Jahren im Unternehmen beschäftigt ist, aber bisher keine Kinder hat (47 Punkte nach obigem Punkteschema).
Das bei dieser Bewertung erzielte Ergebnis ist auch verbindlich. Das Bundesarbeitsgericht verzichtete hier bislang auf eine über das Punkteschema hinausgehende, individualisierte und gegebenenfalls wertende Kontrolle.
Allerdings präzisierte das BAG mit Urteil vom 08.12.2022, Az. 6 AZR 31/22, erneut die Kriterien der Sozialauswahl und entschied, dass auch die Rentennähe im Zusammenhang mit der Berücksichtigung des Alters entscheidend sein kann.
"Bei der Gewichtung des Lebensalters kann zu Lasten eines Mitarbeiters berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht", so das BAG. Gleiches gelte auch, wenn ein Mitarbeiter der Rente bereits sehr nah ist, weil er etwa eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann.
Entschieden werden musste im Fall des BAG, den die vorherigen Instanzen noch zugunsten der Arbeitnehmerin entschieden haben, über die Kündigung einer 1957 geborenen Frau durch den Insolvenzverwalter ihres Arbeitgebers. Dieser war der Auffassung, die Frau gehöre in ihrer Vergleichsgruppe zu den am wenigsten Schutzwürdigen, da sie in absehbarer Zeit - nämlich fünf Monate nach Ende des Arbeitsverhältnisses - eine Altersrente beziehen könne.
Im Rahmen der Entscheidung wurde deutlich, dass auch weiterhin die soziale Schutzbedürftigkeit wegen der schlechten Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zunehmen dürfte. Allerdings machte das BAG ebenfalls deutlich, dass die Schutzbedürftigkeit auch wieder abnehmen kann, wenn ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses ein anderes Einkommen in Form einer abschlagsfreien Rente beziehen können.
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- Autor: Rechtsanwältin Svenja Katharina Brings
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