Arbeitsrecht
Oktober 2022 Reihenfolge der Gewährung von Urlaubsansprüchen - Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 01.03.2022 (Az.: 9 AZR 353/21)
veröffentlicht am 01.10.2022
Jeder Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen gem. § 3 Abs. 1 BUrlG, wobei das Gesetz von sechs Arbeitstagen in der Woche ausgeht (20 Tage bei einer 5-Tage-Woche). Üblicherweise werden Arbeitnehmern entweder im Rahmen eines Arbeits- oder Tarifvertrages über den gesetzlichen Urlaub hinaus weitere zusätzliche Urlaubstage gewährt. Mithin ergibt sich für Arbeitnehmer vielfach ein Urlaubsanspruch von insgesamt 30 Tagen pro Kalenderjahr bei einer 5-Tage-Woche. Vertragliche Regelungen enthalten sodann auch Tilgungsbestimmungen, wie z.B. "Der Arbeitgeber erfüllt – ohne dass dies einer gesonderten Erklärung im Einzelfall bedarf – durch die Gewährung von Urlaub zunächst den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch und im Anschluss daran den übergesetzlichen Urlaubsanspruch." oder "Genommener Urlaub wird zuerst auf den Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz und auf etwaigen gesetzlichen Zusatzurlaub (zusammen 'gesetzlicher Urlaub') angerechnet."
Aber was passiert eigentlich, wenn der Arbeitgeber keine Tilgungsbestimmung vornimmt? Mit dieser Frage hatte sich das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 01.03.2022 auseinanderzusetzen:
Die Parteien stritten über die Abgeltung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus dem Jahr 2016. Der Arbeitnehmer war seit dem 01.08.1976 bei dem Arbeitgeber beschäftigt, zuletzt als stellvertretender Regionalgeschäftsleiter mit einer monatlichen Bruttovergütung i.H.v. 7.023,00 EUR. Der Arbeitnehmer war als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete aufgrund einer Vorruhestandsregelung mit Ablauf des 31.08.2020.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten der B G (MTV) Anwendung, der eigenständige Regelungen zum Umfang und zur Abgeltung von Urlaubstagen enthielt. Darin hieß es auszugsweise:
"3.1 Urlaub
(1) Beschäftigte erhalten in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage Urlaub unter Weiterzahlung der Gehaltsbezüge. Im Hinblick auf ein erhöhtes Erholungsbedürfnis beträgt der Anspruch ab Vollendung des 40. Lebensjahres 32 Urlaubstage im Kalenderjahr. …
3.2 Zusatzurlaub
(1) Schwerbehinderte Menschen im Sinne des SGB IX haben Anspruch auf einen gesetzlichen Zusatzurlaub von 5 Arbeitstagen. …
3.3 Besondere Urlaubsbestimmungen
(1) Urlaub, der nicht spätestens 3 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres genommen wird, verfällt ohne Anspruch auf Geldentschädigung, es sei denn, er wurde erfolglos schriftlich geltend gemacht. …
(3) Konnte der Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit oder wegen Schwangerschaft nicht bis zum Ende des Urlaubsjahres genommen werden, so ist er auf das folgende Kalenderjahr zu übertragen und nach Fortfall der Hinderungsgründe unverzüglich zu nehmen. Der Anspruch auf Urlaub, der nicht bis zum 30.6. des Jahres, in das der Urlaub übertragen wurde, abgewickelt ist, verfällt, soweit es sich nicht um den gesetzlichen Urlaubsanspruch handelt. …
3.4 Urlaubsabgeltung
Der Urlaubsanspruch kann nur abgegolten werden, wenn der/dem Beschäftigten der noch zustehende Urlaub nicht mehr vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder vor dem Beginn der Beurlaubung gemäß den Nrn. 5.1 und 5.2 gewährt werden kann. Für jeden Urlaubstag wird 1/22 des letzten Monatsgehalts gezahlt."
Der Arbeitgeber gewährte dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr 2016 insgesamt 26 Tage Urlaub, ohne eine Tilgungsbestimmung vorzunehmen. Vom 08.09.2016 bis zum 30.06.2017 war der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Ab dem 01.07.2017 war er aufgrund der Vorruhestandsvereinbarung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.08.2020 freigestellt.
Der Arbeitnehmer verlangte Abgeltung von 5 Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus dem Urlaubsjahr 2016 in Höhe von 1.596,14 EUR nebst Zinsen, weil der Arbeitgeber keine Tilgungsbestimmung vorgenommen habe. Dies hätte nach Ansicht des Arbeitnehmers zur Folge, dass vorrangig der weniger geschützte Tarifurlaub erfüllt worden sei.
Das Arbeitsgericht Bielefeld hatte am 25.08.2020 (Az.: 5 Ca 3025/19) der Klage hinsichtlich der Abgeltung des Zusatzurlaubs noch stattgegeben und sie im Übrigen mit der Begründung abgewiesen, der gesetzliche Mindesturlaub des Arbeitnehmers (einschließlich des deckungsgleichen Tarifurlaubs) sei durch Urlaubsgewährung erfüllt worden. Der übergesetzliche Urlaub sei teilweise erfüllt worden und teilweise verfallen. Auf die Berufung des Arbeitgebers hat das LAG Hamm mit Urteil vom 11.02.2021 (Az.: 5 Sa 1125/20) die Klage dann insgesamt abgewiesen. Mit der Revision begehrte der Arbeitnehmer die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Das Rechtsmittel hatte jedoch keinen Erfolg. Nach Auffassung des BAG hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Abgeltung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen. Für das Kalenderjahr 2016 hätte dem Arbeitnehmer zwar ein Urlaubsanspruch von insgesamt 37 Arbeitstagen zugestanden. Dieser setzte sich aus dem gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs.1 BUrlG) einschließlich des deckungsgleichen Teils des Tarifurlaubs von einheitlich 20 Arbeitstagen, dem diesen übersteigenden (übergesetzlichen) Teil des Tarifurlaubs von zwölf Arbeitstagen (Nr. 3.1 Abs. 1 MTV) sowie dem Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen von fünf Arbeitstagen (§ 125 Abs. 1 S. 1 SGB IX a.F. i.V.m. Nr. 3.2 Abs. 1 MTV) zusammen.
Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen war aber durch Erfüllung vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses vollständig erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB).
Die Richter stellten fest, sofern dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Ansprüche auf Erholungsurlaub zustehen, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, findet § 366 BGB Anwendung, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht.
Nimmt der Arbeitgeber dabei keine Tilgungsbestimmung i.S.v. § 366 BGB vor, findet die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe Anwendung, dass zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche und erst dann die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden Urlaubsansprüche getilgt werden.
Vorliegend waren durch die bezahlte Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeit an 26 Tagen der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen und die dem Arbeitnehmer zustehenden 5 Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen vorrangig gegenüber dem tarifvertraglichen Mehrurlaub getilgt worden. Der tarifvertragliche Mehrurlaub unterlag einem eigenständigen Regelungsregime und war daher verfallen.
Praxistipp:
Eine Festlegung der Erfüllung von Urlaubsansprüchen ist nur ein Aspekt einer möglichen differenzierten Behandlung von gesetzlichen und (tarif-) vertraglichen Urlaubsansprüchen. Bei der Vertragsgestaltung können Arbeitgeber eine getrennte Regelung von gesetzlichen Mindesturlaubsansprüchen und vertraglichem Mehrurlaub vereinbaren und sich ein eigenständiges, vom BUrlG abweichendes Urlaubsregime schaffen. Sofern eine eindeutige und transparente Differenzierung erfolgt, kann der vertragliche Mehrurlaub insbesondere bei der Übertragung von Resturlaubsansprüchen, der Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Vertragsbeendigung oder dem Verfall von Ansprüchen bei Langzeiterkrankungen anderen Regelungen unterworfen werden als der gesetzliche Mindesturlaub.
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- Autor: Rechtsanwältin Anja Vollbrecht
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