Arbeitsrecht
März 2022 Mitbestimmung des Betriebsrates bei Hinausschieben des Beendigungszeitpunktes nach § 41 Abs. 3 SGB VI
veröffentlicht am 01.03.2022
Das Bundesarbeitsgericht hatte sich im Beschluss vom 22.09.2021 (7 ABR 22/20) mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dem Betriebsrat bei der Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über das Erreichen einer tariflichen Altersgrenze hinaus, die auf einer Hinausschiebensvereinbarung nach § 41 S. 3 SGB VI beruht, ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 BetrVG zusteht.
Bei den beteiligten Arbeitgebern handelt es sich um ein Unternehmen mit ca. 4.400 Beschäftigten, die den öffentlichen Nahverkehr im Großraum M durch U-Bahnen, Bussen und Tram-Bahnen betreibt. In dem Betrieb findet eine Gesamtbetriebsvereinbarung "Ausschreibungsrichtlinien für die Stadtwerke M GmbH nach § 93 BetrVG" Anwendung. Danach sind freie Stellen grundsätzlich auszuschreiben. Für die beteiligten Arbeitgeber gilt weiterhin der Tarifvertrag des Nahverkehrsgewerbes (TV-N). Nach § 19 Abs. 1a TV-N endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem der/die Arbeitnehmer/in das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersgrenze vollendet hat. Seit Inkrafttreten des § 41 S. 3 SGB VI werden in dem Betrieb der Arbeitgeber fünf- bis zehnmal jährlich Vereinbarungen nach dieser Vorschrift geschlossen. Bislang ist der Betriebsrat hierüber lediglich informiert worden.
Mit Schreiben vom 08.04.2019 wurde dem Betriebsrat mitgeteilt, dass das Arbeitsverhältnis des Herrn K., das nach § 19 Abs. 1a TV-N wegen Vorliegens der Voraussetzungen für den Bezug der gesetzlichen Regelaltersrente mit Ablauf des 31.05.2019 geendet hätte, auf seinen Wunsch hin gemäß § 41 S. 3 SGB VI bis zum 31.05.2020 fortgesetzt wird.
Der Betriebsrat hat in der Weiterbeschäftigung des Herrn K. über die tarifliche Altersgrenze hinaus eine zustimmungspflichtige Einstellung im Sinne von § 99 Abs. 1 BetrVG gesehen und beantragt, dem Arbeitgeber aufzugeben, die Beschäftigung des Herrn K. aufzuheben und sie durch Zwangsgeld zur Befolgung der gerichtlichen Anordnung anzuhalten.
Der Arbeitgeber war der Auffassung, dass eine auf einer Hinausschiebensvereinbarung gemäß § 41 S. 3 SGB VI beruhende Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über eine tarifliche Altersgrenze hinaus nicht der Zustimmung des Betriebsrates nach § 99 Abs. 1 BetrVG bedürfe. In der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei keine Einstellung zu sehen, da der Arbeitnehmer bereits eingegliedert sei. Das Mitbestimmungsrecht sei jedenfalls durch die Zustimmung zur ursprünglichen Einstellung verbraucht, denn der Betriebsrat habe bei der ursprünglichen Einstellung einer unbefristeten Beschäftigung zugestimmt, weil Arbeitsverhältnisse auch bei Geltung einer tariflichen Altersgrenze als unbefristet anzusehen seien. Der Zweck des § 99 BetrVG gebiete in einem solchen Fall ebenfalls nicht die Mitbestimmung des Betriebsrates, da aus der Verlängerung des Arbeitsverhältnisses keine Zustimmungsverweigerungsgründe erwachsen könnten. Außerdem widerspräche die Annahme eines Zustimmungsverweigerungsrechts u. a. dem Zweck des § 41 S. 3 SGB VI.
Das Arbeitsgericht München hat die auf die Aufhebung der Beschäftigung des Herrn K. gerichteten Anträge des Betriebsrats abgewiesen. Das LAG München hatte die Beschwerde des Betriebsrates und die Anschlussbeschwerde der Arbeitgeberinnen, die festgestellt haben wollten, dass dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht aus § 99 Abs. 1 BetrVG zusteht, wenn der Arbeitnehmer - mit Zustimmung des Betriebsrates gemäß § 99 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BetrVG bereits länger als fünf Jahre bei dem Arbeitgeber beschäftigt sei, zurückgewiesen.
Das BAG hat festgestellt, dass die Beschwerde der Arbeitgeber unbegründet ist. Nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG hat der Arbeitgeber in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat unter anderem vor jeder Einstellung zu unterrichten, ihm die erforderlichen Bewerbungsunterlagen vorzulegen und Auskunft über die Person der Beteiligten zu geben; er hat dem Betriebsrat unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen Auskunft über die Auswirkungen der geplanten Maßnahme zu geben und die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Maßnahme einzuholen. Eine Einstellung im Sinne von § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vor, wenn Personen in den Betrieb eingegliedert werden, um zusammen mit den dort beschäftigten Arbeitnehmern dessen arbeitstechnischen Zweck durch weisungsgebundene Tätigkeit zu verwirklichen.
Danach steht dem Betriebsrat bei einer auf einer Hinausschiebensvereinbarung nach § 41 S. 3 SGB VI beruhenden Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über eine tarifliche Altersgrenze hinaus ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu. Es handelt sich um eine mitbestimmungspflichtige Einstellung. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einstellung dient vornehmlich den Interessen der schon im Betrieb beschäftigten Arbeit-nehmer. Im Hinblick auf diesen Schutzzweck kommt eine Einstellung nicht nur bei der erstmaligen Eingliederung eines Mitarbeiters in den Betrieb in Betracht. Die Interessen der be-reits im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer sind auch berührt, wenn ein Arbeitnehmer über den zunächst vorgesehenen Zeitpunkt hinaus im Betrieb verbleibt.
Das BAG ist der Auffassung, dass mit der Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers über eine auf das Arbeitsverhältnis anwendbare tarifliche Altersgrenze hinaus der Arbeitgeber eine Besetzung des aufgrund der Altersgrenze freiwerdenden Arbeitsplatzes vornimmt. Entscheidend ist, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Erreichen der Altersgrenze endet, so dass der Arbeitgeber erneut über die Besetzung des Arbeitsplatzes zu entscheiden hat. Eine solche Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über eine tarifliche Altersgrenze hinaus kann mithin Zustimmungsverweigerungsgründe auslösen. Dies kann der Fall sein, wenn eine nach § 93 BetrVG erforderliche Ausschreibung im Betrieb unterblieben ist, wenn die Besetzung des aufgrund der tariflichen Altersgrenze freiwerdenden Arbeitsplatzes nicht unter Beachtung von Auswahlrichtlinien erfolgt oder wenn die Besorgnis besteht, dass im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer infolge der Weiterbeschäftigung Nachteile erleiden. Letzteres ist nicht deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil Aufstiegs- oder Veränderungschancen der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, die durch eine solche Weiterbeschäftigung ver-schlechtert werden, regelmäßig noch keinen Nachteil im Sinne von § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG darstellen.
Das BAG hat auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Weiterbeschäftigung über eine tarifliche Altersgrenze hinaus nicht von der Zustimmung zu der ursprünglichen Einstellung umfasst ist. Die Beteiligung des Betriebsrats reicht im Fall einer tariflichen Altersgrenze, wie bei jeder befristeten Einstellung, zunächst nur bis zu der vorgesehenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Sie umfasst nicht die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über das für das Erreichen der tariflichen Altersgrenze vorgesehene Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus.
Das BAG hat auch deutlich gemacht, dass § 41 S. 3 SGB VI ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 99 BetrVG nicht ausschließt. Nach § 41 S. 3 SGB VI können die Arbeitsvertragsparteien, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze vereinbart haben, den Beendigungszeitpunkt durch Vereinbarung während des Arbeitsverhältnisses, gegebenenfalls auch mehrfach, hinausschieben. Mit dieser Regelung will es der Gesetzgeber den Arbeitsvertragsparteien ermöglichen, das Arbeitsverhältnis nach Erreichen der Regelaltersgrenze einvernehmlich für einen von vornherein bestimmten Zeitraum fortsetzen zu können, um beispielsweise eine Übergangsregelung bis zu einer Nachbesetzung zu schaffen oder den Abschluss laufender Projekte zu ermöglichen. Zwecksetzung des § 41 S. 3 SGB VI ist eine Sondervorschrift des Befristungsrechts. Sie hat nur Bedeutung für die Rechtsbeziehung zwischen den Arbeitsvertragsparteien. Ein Ausschluss des Mitbestimmungsrechts ergibt sich nicht vom Wortlaut und auch nicht aus dem Gesetzeszwecks, den Arbeitsvertragsparteien eine rechtssichere Befristungsmöglichkeit zu schaffen.
Sofern also im Betrieb Arbeitgeber oder Beschäftigte daran interessiert sind, nach Erreichen der Regelaltersrente den betroffenen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen, sind nicht nur die individualrechtlichen Voraussetzungen nach § 41 S. 3 SGB VI zu prüfen. Besteht im Betrieb ein Betriebsrat, so ist dieser nach § 99 BetrVG zwingend anzuhören und die Zustimmung einzuholen.
Das BAG hatte sich zwar nur mit einer tariflichen Altersgrenze beschäftigt. Der Beschluss ist aber auch übertragbar auf vereinbarte Altersgrenzenregelungen in Arbeitsverträgen sowie Betriebsvereinbarungen.
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- Autor: Rechtsanwältin Anja Vollbrecht
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