Arbeitsrecht
November 2021 Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
veröffentlicht am 01.11.2021
Das Bundesarbeitsgericht hat sich in einem aktuellen Urteil vom 08.09.2021 zum Az. 5 AZR 149/21 mit dem Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bzw. dessen Erschütterung befasst.
Grundsätzlich hat ein Arbeitnehmer nach § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen, sofern dieser durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Bekanntermaßen ist die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das zentrale Instrument zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Insofern kommt dieser in der Praxis auch ein hoher Beweiswert zu. Nichtsdestotrotz besteht die Möglichkeit, bei entsprechenden Anhaltspunkten, den Beweiswert zu erschüttern. Dies ist beispielsweise gegeben, wenn die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Tatsachen zu ernsthaften Zweifeln an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Hieraus resultiert, dass die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit wieder beim Arbeitnehmer liegt.
Im vom Bundesarbeitsgericht streitigen Fall war die klagende Arbeitnehmerin beim beklagten Unternehmen seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 08.02.2019, mithin während der vereinbarten 6-monatigen Probezeit, kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis selbst innerhalb der Probezeit mit einer 2-wöchigen Kündigungsfrist zum 22.02.2019. Parallel legte sie der Beklagten eine auf den 08.02.2019 bis zum 22.02.2019, mithin für den genauen Zeitraum der einschlägigen Kündigungsfrist, datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung und begründete dies damit, dass aus deren Sicht der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei, da diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke. Demgegenüber führte die Klägerin aus, dass sie ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen sei, zumal sie vor einem Burn-Out gestanden habe.
Sowohl das erstinstanzliche Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht haben der auf Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 08.02. bis zum 22.02.2019 gerichteten Zahlungsklage stattgegeben. Anders sah es wiederum das Bundesarbeitsgericht. Dieses führte im Wesentlichen aus, dass die Klägerin die von ihr behauptete Arbeitsunfähigkeit im Streitzeitraum zunächst mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, welche das gesetzlich vorgesehene Beweismittel sei, nachgewiesen habe. Dessen Beweiswert könne der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlege und gegebenenfalls Beweise, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelinge dies dem Arbeitgeber, müsse der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig gewesen sei. Ein derartiger Beweis könne insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts habe die Beklagte nach diesen vorgenannten Grundsätzen den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Im Wesentlichen wird darauf abgestellt, dass die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 08.02. bis einschließlich 22.02.2019 und der am 08.02. bis zum 22.02.2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründe. Im weiteren Verlauf des Verfahrens sei die Klägerin im Übrigen ihrer weiteren Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit trotz Hinweis des Senats nicht hinreichend konkret nachgekommen.
Aus dieser Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ergibt sich für die betriebliche Praxis, dass es in jedem Fall erfolgsversprechend sein kann, bei entsprechenden Anhaltspunkten und Verhaltensweisen des Arbeitnehmers, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzuzweifeln und insofern zu erschüttern. Eine grundlegende Richtung dahingehend, dass bei Übereinstimmung der laufenden Kündigungsfrist mit der datierten Arbeitsunfähigkeit regelmäßig der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert gilt, ist damit allerdings nicht automatisch verbunden. Regelmäßig wird es auf den konkreten Einzelfall ankommen, in dessen Rahmen die Gesamtumstände hinreichend zu würdigen sind. Zu bedenken sind insbesondere auch andere Umstände wie beispielsweise die sofortige Abgabe aller einschlägigen Schlüssel, Zugangskarten oder sonstiger Gegenstände nach einer Kündigung, die im Eigentum des Arbeitgebers stehen. Parallel können im Rahmen der Bewertung auch Verhaltensweisen gegenüber anderen Arbeitskollegen berücksichtigt werden, wie z.B. für den Fall, dass sich der alsbald ausscheidende Mitarbeiter bei seinen Kollegen verabschiedet oder seine persönlichen Gegenstände aus seinem Büro räumt, obwohl eine Beschäftigung während der noch bestehenden Kündigungsfrist bevorsteht.
Selbstverständlich helfen die Juristinnen und Juristen des Verbandes den Mitgliedern gerne bei allen damit verbundenen Fragestellungen.
Mehr zu dem Thema erfahren Sie in unserem AGV-Podcast Nr. 12 "Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung" im Mitgliederportal.
- Autor: Rechtsanwalt Dr. Horst Röben
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