Arbeitsrecht
September 2021 Krankheitsbedingte Kündigung: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum
veröffentlicht am 15.09.2021
Der Arbeitgeber muss nach einem Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Düsseldorf nach einem durchgeführten betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) erneut ein solches bEM durchführen, wenn der Arbeitnehmer nach Abschluss des ersten bEM innerhalb eines Jahres erneut länger als sechs Wochen oder wiederholt arbeitsunfähig wird.
Ein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ hat - so das LAG - ein bEM nicht. Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine nur einmalige Durchführung des bEM im Jahreszeitraum des § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen.
In dem streitgegenständlichen Fall streiten die Parteien um die Wirksamkeit einer ordentlichen personenbedingten, d.h. krankheitsbedingten Kündigung. Der 1973 geborene Kläger arbeitete seit 2001 zuletzt als Produktionshelfer bei der Beklagten. Er war in dem Zeitraum 2010 bis 2019 sehr häufig arbeitsunfähig erkrankt: Er war im Jahr 2010 an 45 Tagen, im Jahr 2011 an 90 Tagen, im Jahr 2012 an 31 Arbeitstagen, im Jahr 2013 an 85 Tagen, im Jahr 2014 an 40 Tagen, im Jahr 2015 an 258 Tagen, im Jahr 2016 an 213 Tagen, im Jahr 2017 an 19 Tagen, im Jahr 2018 an 52 Tagen und im Jahr 2019 an 51 Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Dadurch entstanden dem Unternehmen erhebliche Entgeltfortzahlungskosten.
Die Beklagte sprach dem Kläger 2015 zunächst eine ordentliche betriebsbedingte und 2016 (ohne vorheriges bEM) eine personenbedingte Kündigung aus, jeweils erfolglos. Vor einer erneut beabsichtigten personenbedingten (krankheitsbedingten) Kündigung im Jahre 2019 führte die Beklagte am 05.03.2019 ein bEM mit dem Kläger durch. In dessen Verlauf gab er als Ursache seiner Erkrankungen an, dass in der Halle, in der eingesetzt wird, aufgrund einer Lüftungsanlage permanent Durchzug herrsche. Die Beklagte prüfte den Einwand und kam zu dem Schluss, dass alle Gesundheitsvorschriften eingehalten werden und an den Gegebenheiten nichts weiter geändert werden kann.
Nach den abgeschlossenen Überprüfungen hörte die Beklagte den Betriebsrat Anfang November 2019 zur beabsichtigten Kündigung an und dieser stimmte der Kündigung zu. Unmittelbar danach erhielt die Beklagte Kenntnis von einem Antrag des Klägers auf Anerkennung einer Schwerbehinderung, sodass von der Beklagten zunächst ein Verfahren vor dem Integrationsamt eingeleitet wurde. In dem Verfahren wurde jedoch letztendlich nur ein GdB von 20 bestätigt, sodass eine Zustimmung des Integrationsamtes schlussendlich entbehrlich war. Dennoch war eine erneute BR-Anhörung erforderlich, die am 25.02.2020 erfolgte. Der BR stimmte der Kündigung erneut zu, und die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 26.02. zum 31.08.2021.
Die Besonderheit: Der Kläger hatte seit der Durchführung des bEM am 03.05.2019 weitere erhebliche Fehlzeiten von mehr als 42 Kalendertagen (6 Wochen) aufgebaut. Alleine im Jahr 2019 hatte die Beklagte weitere Lohnfortzahlungskosten von rund 9.700 € zu zahlen. Ein erneutes bEM war vor der Kündigung im Februar 2020 aber nicht durchgeführt worden.
Der Kläger erhob gegen die krankheitsbedingte Kündigung aus Februar 2020 Kündigungsschutzklage und berief sich u.a. darauf, dass das bEM vom 05.03.2019 nicht ausreichend sei, sondern vor der Kündigung im Februar 2020 hätte wiederholt werden müssen. Er war insbesondere der Ansicht, dass ein neues bEM andere Erkenntnisse ergeben hätte, da alle den Krankheitszeiten zugrunde liegenden Grunderkrankungen nunmehr ausgeheilt seien. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt.
Das LAG Düsseldorf bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung mit Urteil vom 09.12.2020 (12 Sa 554/20) und begründete dies im Wesentlichen damit, dass vor Ausspruch der Kündigung nicht erneut ein bEM durchgeführt worden war, wozu die Beklagte aufgrund der Auslegung des § 167 Abs. 2 SGB IX verpflichtet gewesen wäre.
Das LAG stellte klar, dass ein bEM im Zeitablauf wiederholt durchzuführen oder jedenfalls anzubieten sei, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erneut erfüllt werden. Mit der Beendigung des Berechnungszeitraumes, d.h. dem Zeitpunkt, in dem eine 6-wöchige Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, setze zugleich ein neuer Berechnungszeitraum ein. Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine „nur einmalige“ Durchführung des bEM im Jahreszeitraum lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen.
Das vorliegende Urteil klärt damit ein in der Praxis nicht selten auftretendes Problem: Erkrankt ein Arbeitnehmer nach einem durchgeführten bEM erneut für einen Zeitraum, der insgesamt 6 Wochen und mehr dauert, so ist auch erneut ein bEM durchzuführen, selbst, wenn seit dem letzten bEM noch kein ganzes Jahr vergangen ist.
Das bEM hat also, wie es das LAG im Urteil ausdrückt – kein „Mindesthaltbarkeitsdatum“!
Fazit: Wird der betreffende Arbeitnehmer nach Abschluss eines bEM erneut länger als 6 Wochen krank, muss ein weiteres bEM durchgeführt werden! Dies bedeutet, dass bei Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung stets ein straffer Zeitplan einzuhalten ist.
In dem Urteil wird zudem noch einmal deutlich hervorgehoben, wie wichtig es für den Arbeitgeber überhaupt ist, vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung ein bEM fehlerfrei durchzuführen. Denn obwohl das LAG im Urteil weder an der negativen Gesundheitsprognose noch an einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichenrechtsanwaeltin Interessen der Beklagten zweifelte, war allein das fehlende bEM ausschlaggebend dafür, der Klage zugunsten des Arbeitnehmers stattzugeben.
Angesichts der zahlreichen formalen Voraussetzungen und nicht zuletzt auch wegen einer sich im ständigen Wandel befindlichen Rechtsprechung empfehlen wir Ihnen, sich vor Ausspruch einer beabsichtigten krankheitsbedingten Kündigung mit unserem Verband in Verbindung zu setzen. Wir helfen unseren Mitgliedern gerne bei allen Fragestellungen weiter und stellen außerdem aktuelle Muster z.B. für ein BEM-Einladungsschreiben unter Berücksichtigung der neuen gesetzlichen Vorgaben ab dem 01.06.2021 zur Verfügung. Rufen Sie uns an.
Mehr zu dem Thema erfahren Sie in unserem AGV-Podcast Nr. 13 "Krankheitsbedingte Kündigung: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum" im Mitgliederportal.
- Autor: Rechtsanwältin Ruth Wreesmann
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